Das Gāyatrī Mantra gehört zu den bekanntesten Mantren des Hinduismus. Früher war es nur Gläubigen der höheren Kasten erlaubt, das Mantra zu rezitieren. Heutzutage beten es die meisten Hindus täglich in gesungener Form.
Das Mantra ist eine Hinwendung an das höchste Göttliche (Savitri) mit der Bitte um geistige Erleuchtung.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Dieser Beitrag befasst sich mit dem Gāyatrī Mantra und gibt den Fokus auf eine von Sri Aurobindo modifizierte Form dieses Mantras und dessen Bedeutung.
Lassen wir zuerst einige Worte von Swami Sivananda und Sri Aurobindo über das Gāyatrī Mantra zur Sprache kommen:
Swami Sivananda schreibt im Buch Sadhana:
„Es [das Gāyatrī Mantra] ist Leben und Halt für jeden Hindu, ja sogar Halt für jeden Sucher nach der Wahrheit, der an seine Wirksamkeit, Kraft und Herrlichkeit glaubt, gleich welcher Kaste, welchem Glaubensbekenntnis, welchem Land oder welcher Gruppe er angehört. Nur der Glaube und die Reinheit des Herzens zählen wirklich. In der Tat, Gayatri ist eine undurchdringliche spirituelle Rüstung, eine wahre Festung, die ihren Verehrer bewahrt und beschützt, ihn göttlich macht und ihn mit dem strahlenden Licht der höchsten spirituellen Erleuchtung segnet. (…)“
Sri Aurobindo in ,Briefe über den Yoga‘, Band II:
„Das Gayatri-mantra ist das mantra, welches das Licht der Wahrheit auf alle Ebenen des Wesens bringt.“
„Die Macht des Gayatri-mantra besteht in dem Licht der göttlichen Wahrheit. Es ist ein mantra des Wissens.“
Originales Gāyatrī Mantra
Gāyatrī ist die weibliche Form von gāyatra, was Hymnus bedeutet. Das Gāyatrī Mantra besteht aus einer Zeile aus dem Yajurveda (1. Zeile) und dem Vers 3.62.10 des Ṛgveda. Als Urheber gilt Brahmarishi Viśvāmitra, der noch weitere Hymnen des dritten maṇdala (3. Buch) des Ṛgveda verfasst hat. Im Laufe der Zeit wurde das Mantra personifiziert. Als personale Verkörperung gilt die Göttin Gāyatrī, die Frau des Schöpfergottes Brahmā.
oṁ bhūr bhuvaḥ svaḥ
tat savitur vareṇyaṁ I
bhargo devasya dhīmahi
dhiyo yo naḥ pracodayāt II
Das Mantra enthält eine Vielschichtigkeit von verschiedenen Bedeutungsebenen, was teilweise zu sehr unterschiedlichen Übersetzungen führt (siehe verschiedene Übersetzungen).
Wort für Wort-Übersetzung
Sanskrit | Deutsch |
---|---|
oṁ | Brahman, Ausdruck des Absoluten |
bhūḥ | Erde, Erdenwelt, materielle Daseinsebene |
bhuvaḥ | Welt zwischen Erden- und Himmelswelt, Luftraum |
svaḥ | Himmelswelt, himmlische Ebene |
tat | DAS, Absolute, Unendliche |
savituḥ | des Savitri, Savitar (Sonnengott), Schöpfers |
vareṇyaṁ | verehrungswürdig, anbetungswürdig |
bhargo | Glanz, Ruhm, Beseitiger der Unwissenheit |
devasya | des Gotttes, des Göttlichen |
dhīmahi | lasst uns meditieren |
dhiyo | Intellekt, Verstehen |
yo | der, wer, welcher |
naḥ | unser |
pracodayāt | erleuchten, inspirieren |
Verschiedene Übersetzungen
Wörtliche Übersetzung:
OM Erde, Lufttraum, Himmel.
Wir wollen über den hervorragenden Glanz des Gottes Savitṛ meditieren, der unseren Geist erleuchten möge.
Einige freie Übersetzungen:
Om, wir meditieren über den Glanz des verehrungswürdigen Göttlichen,
den Urgrund der drei Welten, Erde, Luftraum und himmlische Regionen.
Möge das Höchste Göttliche uns erleuchten,
auf dass wir die höchste Wahrheit erkennen.
Quelle: Wikipedia
Meditieren wir über Īśvara und Seine Herrlichkeit,
der das Universum geschaffen hat,
der verehrungswürdig ist,
der alle Sünden und Unwissenheit beseitigt.
Möge Er unseren Intellekt erhellen!
Quelle: Swami Sivananda – Sadhana
OM Erde, Luft und Himmel!
Wir versenken uns in den strahlenden Glanz
des lebenspendenden Gottes Savitri.
Möge er uns inspirieren.
Gāyatrī Mantra von Sri Aurobindo
tat savitur varaṁ rūpaṁ
jyotiḥ parasya dhīmahi I
yannaḥ satyena dīpayet II
Lasst uns über die verheissungsvollste (beste) Form von Savitri meditieren,
über das Licht des Höchsten, das uns mit der Wahrheit erleuchte.
Wieso ein neues Gāyatrī Mantra?
Gemäss M.P. Pandit (1918-1993, einem direkten Schüler von Sri Aurobindo) war das originale Gāyatrī Mantra (siehe oben) dazu gedacht, den Intellekt (Mental) zu erleuchten. Sri Aurobindos Modifizierung des Gāyatrī Mantras hingegen hat den Zweck, das gesamte Sein zu vergöttlichen (Supramentale Transformation).
Geschichte des Gāyatrī Mantra von Sri Aurobindo
Sri Aurobindo schrieb das Gayatri Mantra für die Zeremonie der heiligen Schnur (upanayana, hinduistischer Initiationsritus) von Mithran, dem Sohn von Doraiswamy Iyer (1882-1976, Schüler von Sri Aurobindo). Mithran hatte geschworen, nur dann an der Zeremonie teilzunehmen, falls Sri Aurobindo das Mantra gibt. Er schrieb es auf ein kleines Stück Papier (siehe unten stehende Abbildung).
Sri Aurobindo’s handgeschriebenes Gāyatrī Mantra
Gāyatrī Mantra von Sri Aurobindo in Devanāgarī-Schrift:
तत्सवितुर्वरं रूपं ज्योतिः परस्य धीमहि |
यन्नः सत्येन दीपयेत् ||
Sri Aurobindo selbst schrieb keine englische Übersetzung.
Vermutlich wurde diese durch A. B. Purani (1894-1965) erstellt, der Doraiswamy Iyer nahe stand, oder auch durch Nolini Kanta Gupta (1889-1984), welcher Generalsekretär des Aurobindo Ashrams war.
Handschriftliche Übersetzung ins Englische von Mirra Alfassa (die MUTTER)
Let us meditate on the most auspicious (best) form of Savitri,
on the Light of the Supreme which shall illumine us with the Truth.
Wort für Wort-Übersetzung
Sanskrit | Deutsch |
---|---|
tat | jene |
savituḥ | des Savitri, Savitar (Sonnengott), Schöpfers |
varaṁ | verheissungsvollste |
rūpaṁ | Form |
jyotiḥ | Licht |
parasya | des Höchsten |
dhīmahi | lasst uns meditieren über |
yannaḥ (= yat + naḥ) | |
yat | welches |
naḥ | uns |
satyena | mit der Wahrheit |
dīpayet | erleuchte |
Bedeutung
M.P. Pandit (1918-1993, langjähriger Sekretär der MUTTER) schreibt:
(Auszug aus Erlebnis: Sanskrit-Sprache von Wilfried Huchzermeyer)
«Savitri 1) ist die Sonne. Nicht die physische Sonne am Himmel, sondern die Sonne der Wahrheit am spirituellen Firmament. Savitri ist der Schöpfer von allem (die Wurzel su bedeutet: Geburt schenken, freisetzen, antreiben usw.). Er ist das höchste Göttliche in seinem Ruhezustand zur Manifestation, und er ruft alle Formen ins Leben und treibt Sie voran. Er ist die spirituelle Sonne auf dem höchsten Gipfel der Schöpfung, erstreckt sich wie ein Auge am Himmel. Und Er ist es, der durch den Sonnenball auf der physischen Ebene unseres Universums repräsentiert wird. Er ist die Wahrheitssonne, die Quelle allen Lichts und Lebens, der das Ziel der lebenslangen Opfer und Gegenstand der ewigen Schau der Seher des Veda ist.
Er erschafft. Aber indem er dies tut, tritt er selbst in die zahllosen Formen ein, die den unendlichen Kosmos von Universen bevölkern, und nimmt sie an. Es gibt jedoch eine Form, die die höchste aller Formen ist, und das ist die natürlichste und beste Form Savitris: Licht. Licht ist das Kleid der Wahrheit. Die erste und charakteristische Form spiritueller Wahrheit ist immer Licht, und sogar unser physisches Licht, das ein Symbol des spirituellen Lichtes ist, birgt in seinem Kern etwas von jener Wahrheit. (…)
Aber dieser Glanz ist nicht greifbar für unsere grobsinnliche Schau. Nur das innere Auge, durch Yoga geöffnet, kann ihn nach einer angemessenen Läuterung und Erleuchtung des Wesens wahrnehmen. Wo wahrnehmen? Im Herzen. Das höchste Licht, das oberhalb dieser dreifachen Welt in der Unwissenheit ist, existiert auch im Herzen eines jeden Geschöpfes. Die Chandogya Upanishad sagt:
Das Licht, das über diesem Himmel scheint, über allen Welten, über allem, in den höchsten Welten, unübertroffen von irgendwelchen anderen, ist dasselbe Licht, das im Menschen ist.
Diese Form des Lichtes ist der Körper selbst der Bewusstseinskraft des Herrn, die Parā Prakṛti in den drei höheren Welten von Sat, Chit und Ananda [Sein, Bewusstsein, Freude], die die obere Hemisphäre [siehe Bild unten] konstituieren, die trīni rocanāni des Veda, seine Shakti, die selbstoffenbarende Natur des göttlichen Seienden, der Sat genannt wird, die einzige Wahrheit, Satya. Sie ist aktiv, bringt hervor, was in der Unendlichkeit des Wesens des Herrn enthalten ist. Sie begleitet die Schöpfung von Formen aus dem Formlosen; Sie ist die göttliche Mutter. Sie hat all diese Systeme von Universen ins Leben gerufen und Sie ist es auch, dieselbe Licht-Kraft, die Shakti, die sie erhält und nach der Absicht des höchsten Herrn gestaltet. (….) Wir wollen Sie aufrufen, in uns ein Bewusstsein zu erwecken, das auf Ihre Werke anspricht, und eine lebendige Einheit unseres Strebens mit Ihrem Willen herbeizuführen. Wir wollen über Sie meditieren. (….) Es ist nicht der Geist allein mit all seinen Fähigkeiten, der das Licht zu empfangen hat. Unsere Gesamtheit, naḥ, muss in jener leuchtenden Wahrheit wiedergeboren werden.
Für den Sadhak 2) des Integralyogas Sri Aurobindos ist die Bedeutung und der Wert dieses Mantras offenbar. Es ist dasselbe jyotiḥ, Licht, das im Mantra aufgerufen wird, verkörpert in der Person der Mutter, die den Prozess des Yoga im Individuum initiiert und ihn zu seiner krönenden Verwirklichung der supramentalen Erleuchtung führt. Daraus ergibt sich, dass Sie die Gottheit des Mantras ist. Und das Mantra, geladen mit der spirituellen Dynamis seines Sehers, Sri Aurobindo – des Schöpfers uns Förderers des Supramentalen Lebens auf Erden – ist eine königliche Idee, die
des Menschen Kraft mit einer transzendenten Macht verbinden kann.
Savitri, Buch I. Canto II
und so die glanzvolle Erfüllung des Ziels dieses [integralen] Yogas gewährleistet.»
1) Nicht zu verwechseln mit der Heldin Sāvitrī im gleichnamigen spirituellen Epos Sri Aurobindos.
2) Ein Übender; jemand der sādhana (Disziplin zur Erlangung eines spirituellen Ziels) übt.
Obere und niedere Hemisphäre des Bewusstseins
Metrik
Das Gāyatrī-Versmass besteht aus 24 Silben zu 3 pādā mit je 8 Silben.
Beim Original-Mantra von Brahmarishi Viśvāmitra sind aber in der 1. Zeile nur 7 anstatt 8 Silben enthalten:
tat sa vi tur va ren yaṁ
1 2 3 4 5 6 7
Sri Aurobindos Mantra korrigiert diesen Fehler. Die 1. Zeile enthält genau 8 Silben:
tat sa vi tur va raṁ rū paṁ
1 2 3 4 5 6 7 8
Stellenwert von Mantren im Integralen Yoga
Da es im Intergralen Yoga kein festgelegtes Übungs-Programm gibt, ist auch das Rezitieren von Mantras nicht zwingend. Mehr dazu in den unten stehenden Worten von Sri Aurobindo:
Sri Aurobindo in ,Briefe über den Yoga‘, Band II:
„… Die Aufgabe eines Mantra ist, Schwingungen im inneren Bewusstsein zu erzeugen, die es für die Verwirklichung dessen vorbereiten, was das Mantra symbolisiert und tatsächlich in sich birgt. (….)“
„Wenn man ein Mantra regelmäßig wiederholt, beginnt es häufig, sich innerlich von selbst zu wiederholen, was bedeutet, dass es durch das innere Wesen aufgenommen wurde. Auf diese Weise ist es wirkungsvoller.“
„In diesem Yoga [Integralyoga] gibt es kein festgelegtes mantra, und es wird auch kein Wert auf mantras gelegt – der Sadhak [der Übende des Integralyoga] kann jedoch ein solches anwenden, wenn oder solange er es hilfreich findet. (…) Wenn hierfür ein mantra als förderlich empfunden wird, kann man es anwenden. (…)“
„Es ist nicht notwendig, das Gayatri-japa aufzugeben oder die Methode, der du zur Zeit folgst. Konzentration im Herzen ist eine Methode, Konzentration im Kopf (oder darüber) ist eine andere; beide sind in diesem Yoga enthalten, und man hat das zu tun, was man gerade als am leichtesten und natürlichsten empfindet. Das Ziel der Konzentration im Herzen ist, das Zentrum dort zu öffnen (Herz-Lotos), die Gegenwart der Göttlichen Mutter im Herzen zu fühlen und sich seiner Seele oder seines seelischen Wesens bewusst zu werden, das ein Teil des Göttlichen ist. Das Ziel der Konzentration im Kopf ist, sich zum Göttlichen Bewusstsein zu erheben und das Licht der Mutter, ihre Kraft oder ihren ānanda in alle Zentren herabzubringen. Diese Bewegung des Aufsteigens und Herabkommens ist in den Vorgang deiner japa mit einbezogen, und daher ist es nicht notwendig, sie abzulehnen. (…)“
Fazit
Sri Aurobindo hatte sich nicht öffentlich dazu geäussert, dass er eine neue Form des Gāyatrī Mantra verfasst hat. Dies ist, gemäss dem oben erwähnten geschichtlichen Hintergrund seines Gāyatrī Mantra, spontan und nicht offiziell geschehen.
Die Hervorhebung von Sri Aurobindos Gāyatrī Mantra aus der Sicht des Integralen Yoga ist durch seine Schüler entstanden. Da die Methoden und das Ziel des Intergralen Yoga von den herkömmlichen Yogamethoden abweichen, siehe entsprechender Blog-Beitrag, macht es daher durchaus Sinn, dass auch der Text des Gāyatrī Mantra entsprechend angepasst ist.
Das originale Gāyatrī Mantra strebt eine Erleuchtung des Geistes durch das höchste Göttliche (Savitri) an.
Sri Aurobindos Gāyatrī Mantra hingegen möchte, dass das gesamte Sein (Mental, Vital, Physis und das Unterbewusste) durch eine Herabkunft der göttlichen WAHRHEIT umwandelt bzw. vergöttlicht wird (supramentale Transformation).
Ich danke Wilfried Huchzermeyer für die Durchsicht des Textes und für seine Verbesserungsvorschläge.