Sri Aurobindo unterscheidet zwischen den alten, herkömmlichen Yogamethoden und dem Integralen Yoga (Pūrṇa-Yoga).
Die Methoden und das Ziel des Integralen Yoga weichen teilweise von denjenigen der traditionellen Yogaarten ab.
Dieser Beitrag stellt einen Versuch dar, diese Unterschiede aufzuzeigen.
Sri Aurobindo schreibt in Licht auf Yoga, Seite 7:
„Der Weg, dem dieser Yoga [Integraler Yoga] folgt, unterscheidet sich hinsichtlich seines Zwecks von anderen Yoga-Wegen, denn sein Ziel besteht nicht nur darin den Menschen aus dem üblichen, nichtwissenden Welt-Bewusstsein zum göttlichen Bewusstsein emporzuführen, sondern auch die supramentale Kraft dieses göttlichen Bewusstseins in das Nichtwissen des Mentals, des Lebens [Vital] und des Körpers herniederzubringen, diese zu wandeln, das Göttliche in der Welt zu offenbaren und ein göttliches Leben in der Materie zu schaffen.“
Die meisten traditionellen Yogasysteme basieren auf den acht Stufen des Yoga (Aṣṭāṅga-Yoga) gemäss Rishi Patañjali. (siehe unten stehende Abbildung).
Das Ziel von Aṣṭāṅga-Yoga ist Nirvikalpa Samādhi (Erleuchtung) sowie Mukti oder Mokṣa (Befreiung).
Rishi Patañjali definiert Yoga in den Yogasūtren im 2. sūtra des 1. pāda wie folgt:
yogaś citta-vṛtti nirodhaḥ
Dies bedeutet: „Yoga ist das Versiegeln der Geistes- und Gemütszustände (citta-vṛtti).“
Sri Aurobindo schreibt in ,Briefe über den Yoga‘, Band 1, Seite 381:
„… Citta, im Gegensatz zu cit oder vijñāna, ist lediglich das grundlegende Bewusstsein von Mental und Leben [Vital], aus dem sich die Substanz der (gewöhnlichen) Gedanken, Gefühle, Erregungen usw. erhebt. …“
Im Integralen Yoga ist das Beruhigen von citta eine Voraussetzung für die dreifache Umwandlung (seelische, spirituelle und supramentale Transformation), aber nicht das endgültige Ziel.
Während das System von Patañjali acht Stufen oder Glieder (aṣṭāṅga) umfasst, welches durch die Stufen Yama (Kontrolle), Niyama (Disziplin), Āsana (körperliche Übungen), Prāṇāyāma (Kontrolle der Lebensenergie), Pratyāhāra (Disziplinierung der Sinne), Dhāraṇā (Konzentration), Dhyāna (Meditation) zur Transzendenz (Samādhi) führt, kann man das System des Integralen Yoga (Pūrṇa-Yoga) von Sri Aurobindo als fünfgliedrigen (pañcāṅga) Pfad bezeichnen, der die physischen, die vitalen, die mentalen, die seelischen und die spirituellen Aspekte des menschlichen Wesens umfasst.
Um die Philosophie Sri Aurobindos richtig zu verstehen, muss man den Menschen in seiner fünffachen Natur betrachten und sehen, wie jeder Aspekt zum anderen führt, welcher durch größere Vollkommenheit gekennzeichnet ist, und man schlussendlich zum Höchsten gelangt. Um ganz zu sein, muss man diese fünf Hauptschritte gehen, die sich auf die fünf folgenden Lebensbereiche beziehen (siehe auch Blog-Beitrag ‚Teile und Ebenen des Seins‚):
- Physis
- Vital
- Mental
- Seelische Aspekte (seelisches Wesen)
- Spirituelle Aspekte (höhere, göttliche Sphären des Bewusstseins)
Sri Aurobindo schreibt in ,Briefe über den Yoga‘, Band 2, Seite 133:
„Die Sadhana dieses Yoga geht nicht durch eine festgelegte mentale Lehre vonstatten oder durch vorgeschriebene Formen der Meditation, durch mantra oder andere Dinge, sondern durch Streben, durch nach innen oder oben gerichtete Konzentration, durch das Sich-Öffnen für einen Einfluss, für die Göttliche Macht über uns und ihr Wirken, für die Göttliche Gegenwart im Herzen und durch die Zurückweisung all dessen, was diesen Dingen fremd ist. Und allein durch Glauben, Streben und Hingabe kann dieses Sich-Öffnen erfolgen.“
Sri Aurobindo schreibt in ,Die Synthese des Yoga‚, Seiten 55/56:
„Es gibt drei wichtige Züge des Handelns, wenn die höhere Natur integral auf die niedere einwirkt. Zunächst handelt sie nicht nach einem festgelegten System und in einer bestimmten Reihenfolge, wie das bei den spezialisierten Yoga-Methoden der Fall ist.
Vielmehr wirkt sie frei, einmal hier und einmal dort, und doch stufenweise immer intensiver und zielvoller, so wie es durch das Temperament des einzelnen Menschen, in dem sie wirkt, bestimmt wird. Sie gebraucht die Läuterung und Vervollkommnung der verwendbaren Materialien, die seine Natur darbietet, und ebenso die Widerstände, mit denen sie opponiert. In gewissem Sinne hat darum im Integralen Yoga jeder Mensch seine eigene Yoga-Methode.
Doch gibt es gewisse allgemeine Grundzüge des Wirkens, die für alle gelten und es uns möglich machen, zwar gewiss kein Routinesystem, wohl aber ein gewisses shastra, eine wissenschaftliche Methode des synthetischen Yoga zu konstruieren. ….”
Das Ziel des Integralen Yoga ist somit nicht wie bei den traditionellen Yogaarten das Bewusstsein in höhere, göttliche Seinsebenen entschwinden zu lassen (Samādhi). Vielmehr geht es im Integralen Yoga darum, alle Lebensbereiche durch eine Herabkunft des Göttlichen in die Materie umzuwandeln (Transformation).
Sri Aurobindo spricht wie folgt von einer dreifachen Umwandlung:
1. Die seelische oder psychische Transformation, bei der die Kräfte des Körpers, des Vitalen und Mentalen unter den seelischen Einfluss gebracht werden und nach und nach immer mehr dem seelischen Wesen überantwortet werden.
Quelle Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Integraler_Yoga:
„Nach Sri Aurobindo steht die Seele (das Seelische oder Psychische Wesen) hinter der Persönlichkeit des Menschen. Sie ist der Träger von Körper, Leben [Vital] und Mental. Bei „normalen“ Menschen duldet sie deren Entscheidungen und greift nur selten ein. Das seelische Wesen hat aber in sich die Fähigkeit, die Natur einer Person umzuformen und dort, wo zuvor Dunkelheit war, Helligkeit und Klarheit zu bringen, wo zuvor Verwirrung war, Einsicht und Verstehen zu bringen, wo zuvor Falschheit war, Wahrheit und Recht zu bringen. Das Seelische Wesen vermag sogar den Körper vor Krankheiten und Gefahren zu schützen. Das Seelische beeinflusst das Bewusstsein vom Hintergrund her, aber man muss aus dem gewöhnlichen Bewusstsein heraus in das innerste Wesen hineintreten, um es zu finden, und man muss es zum Herrscher über das Bewusstsein machen, der es sein muss. Das zu tun ist eines der Hauptziele des Yoga. Es ist deshalb die Aufgabe des Sadhaks [Schüler/in], die Kräfte des Körpers, des Vitalen und Mentalen unter den Seelischen Einfluss zu bringen und nach und nach sich immer mehr dem Seelischen Wesen zu überantworten. Das Seelische Wesen kennt den Weg zum Göttlichen, vernimmt dessen Ruf und vermag Verstand, Herz und Körper zu ihm hinzuführen. Dies muss in einem ständigen Prozess geschehen, bis der Kontakt zum Göttlichen stabil ist und die Spirituelle Transformation beginnt.“
2. Die spirituelle Transformation. Für die volle spirituelle Transformation ist ein ständiger Aufstieg vom niederen in das höhere Bewusstsein notwendig und eine wirksame, ständige Herabkunft des Höheren in die niedere Natur.
Quelle Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Integraler_Yoga:
„Wenn der Mensch den Verschluss des Verstandes erst einmal durchbrochen hat, schaut er die Unendlichkeit über sich, verspürt eine ewige Gegenwart, eine Unendlichkeit von Bewusstsein und Seligkeit, ein grenzenloses Licht, ein grenzenloses Selbst, eine ewige Göttlichkeit. Wenn er von diesem Aufstieg zurückkehrt, ist er sich dessen bewusst; doch es fehlt eine bewusst erkennende Unterscheidung und eine klare Fassung der Erfahrung. Das liegt nach Sri Aurobindo daran, dass diese Erfahrungen für den menschlichen Verstand überbewusst sind und erst eine Folge von Erfahrungen dem menschlichen Geist ermöglichen in dem was zuvor überbewusst war, bewusst zu werden. Dann beginnt eine Erfahrung und Erkenntnis der höheren Ebenen des Seins. Für die volle spirituelle Transformation ist ein ständiger Aufstieg vom niederen in das höhere Bewusstsein notwendig und eine wirksame, ständige Herabkunft des höheren in die niedere Natur. Keine Grenze kann dieser Revolution gesetzt werden, denn ihrer Natur nach ist sie die Invasion des Unendlichen.“
3. Die supramentale Transformation, dies bedeutet die Herabkunft des Göttlichen in Mental, Vital und Physis, um diese umzuwandeln (zu vergöttlichen).
Quelle Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Integraler_Yoga:
„Sri Aurobindo stellt aber auch fest, dass der menschliche Geist das Unendliche reflektieren kann, in demselben aufgehen kann, seine Weisungen entgegennehmen und sie auf seine eigene Weise ausführen kann; aber er kann nicht selbst das direkte und vollkommene Instrument des unendlichen Geistes sein. Hierzu bedarf es eines Bewusstseins das sich oberhalb des mentalen, menschlichen Bewusstseins befindet. Aurobindo nennt dies das supramentale Bewusstsein. Und stellt fest, dass sich die Evolution auf dieses supramentale Bewusstsein hinbewegen muss, um ein göttliches Leben auf Erden zu ermöglichen.“
Die traditionellen Yoga-Systeme haben zum Ziel, in ekstatische Höhen des Samādhi oder Nirvāṇa zu entrücken (transzendieren), ohne dass sich an der Materie etwas verändert. Die niederen Bereiche werden dabei aber nicht umgewandelt. Dabei handelt es sich um einen Prozess des Aufstiegs in göttliche Ebenen (siehe unten stehende Abbildung).
Der Integrale Yoga hat zum Ziel, nach dem Aufstieg in die göttlichen Ebenen, göttlichen Frieden und Harmonie in die Materie herabzubringen und diese zu transformieren (supramentale Transformation). Dieser Prozess ist schwieriger, doch auf die Dauer die richtige Lösung (siehe unten stehende Abbildung).
Es geht also darum, durch die supramentale Transformation göttlichen Frieden und Harmonie in Mental, Vital, Physis und schliesslich auch ins Unterbewusste zu bringen und dadurch diese Teile umzuwandeln (siehe unten stehendes Bild).
Sri Aurobindo schreibt in ,Briefe über den Yoga‘, Band 2, Seite 60:
„Die Verwirklichung dieses Yoga [des Integralen Yoga] ist nicht geringer, sondern höher als nirvāṇa oder nirvikalpa samādhi.”
Seite 131: „ … Nicht mokṣa (Befreiung) [ist das Ziel des Yoga], obwohl durch sie die Befreiung und alles übrige kommen kann – all dies darf nicht unser Ziel sein. Das Göttliche allein ist unser Ziel.”
Sri Aurobindo schreibt in ,Die Synthese des Yoga‚, Seite 55:
„Das Ziel des Yoga ist, dass wir aus der niederen in die höhere Natur hinübergelangen. Dieser Übergang könnte dadurch bewirkt werden, dass man der niederen Natur entsagt und sich in die höhere flüchtet (das ist die gewöhnliche Auffassung vom Yoga), oder dadurch, dass die niedere Natur umgewandelt und in die höhere Natur emporgehoben wird. Gerade das muss das Ziel eines Integralen Yoga sein.”
Das Ziel des Integralen Yoga (die supramentale Transformation) wird in den Upaniṣaden, im ersten Teil des 1. śloka der Īśā-Upaniṣad erwähnt:
īśā vāsyam idaṁ sarvaṁ | yat kiñca jagatyāṁ jagat | ….
Mache alles, was sich in der Welt bewegt zur Wohnstatt des Höchsten (von Gott). …
Übersetzung von Sri Aurobindo:
Alles (dies) dient dem Herrn als Wohnstatt, was immer individuelles Universum der Bewegung in der universalen Bewegung ist. ….
Abschliessend: Ein konkreter Vergleich zwischen dem Integralen Yoga und Kriyā-Yoga (traditionelle Yogaart) ist in folgendem Blog-Beitrag nachzulesen.
Ich danke Wilfried Huchzermeyer für die Durchsicht des Textes und für den Wikipedia Weblink-Eintrag auf diesen Blog-Beitrag.